Wenn nichts mehr sicher scheint, wie bleibst du handlungsfähig?

Es gibt diese Momente, wenn etwas völlig unerwartetes alles bisherige über den Haufen wirft. Und diese Momente scheinen zuzunehmen:

  • Ein KI Tool geht über Nacht online, erreicht Millionen Nutzer*innen und macht plötzlich ganze Jobprofile unsicher.
  • Ein Angriff von Russland auf die Ukraine und die Energiepreise schießen nach oben. Lieferverträge platzen, Kalkulationen lösen sich in Luft auf und selbst große Unternehmen stoppen Investitionen.
  • Ein Containerschiff steckt im Suezkanal fest und in wenigen Tagen fehlen weltweit Bauteile, Medikamente und Rohstoffe. Die Produktionsbänder stehen still, obwohl das Problem Tausende Kilometer entfernt liegt.
  • Ein kurzer Post auf Social Media löst einen Shitstorm aus. Innerhalb weniger Stunden stürzt der Börsenwert eines Unternehmens ab, weil niemand das Risiko eingehen will, still zu bleiben.

Diese Ereignisse verbinden uns, weil sie uns zeigen, wie verletzlich unsere scheinbare Sicherheit ist. Und sie werfen dieselbe Frage auf: Wie bleiben wir handlungsfähig, wenn wir nicht mehr wissen, was morgen passiert.

Es gab Zeiten, da war das anders. In den goldenen Zeiten der Automobilindustrie galt für einige Jahre(zehnte) am Stück: Normen und Prozesse bestimmen die Wertschöpfung. Das Wissen darüber, welches die richtige Entscheidung sein wird, war vorhanden. Denn man konnte es messen. Planung bedeutete somit Erfolg und Stabilität. Abweichungen waren Ausnahmen.

Heute erlebe ich, dass sich die Spielregeln in Wirtschaft und Gesellschaft verändern. Nicht, weil Menschen plötzlich andere Bedürfnisse hätten, sondern weil wir in einer zunehmend global vernetzten Welt von Systemen leben. Die Dynamik dieser Netzwerke ist hochkomplex und beschleunigt alles.

Je dichter die Vernetzung zwischen und in den Systemen, desto häufiger treten Effekte auf, die niemand planen kann: kleine Störungen, die sich wie eine Lawine verstärken. Vorhersagbarkeit scheint häufiger zur Ausnahme zu werden. Als im Frühjahr 2021 ein einzelnes Containerschiff im Suezkanal feststeckte, dauerte es nur wenige Tage, bis ganze Lieferketten kollabierten.

Damit zeigt sich häufiger, dass sich auch die Machtbalance verschiebt: vom Anbieter hin zum Nachfrager. Und das nicht nur am Markt, sondern auch innerhalb von Unternehmen. Was gestern noch Erfolg versprach, trägt heute nicht mehr.

Beispiel: Im Einzelhandel bestimmten früher die großen Ketten, welche Produkte in die Regale kamen. Heute entscheiden Kund*innen mit einem Klick, ob sie lokal einkaufen, direkt beim Hersteller bestellen oder bei Plattformen wie Amazon vergleichen. Der Anbieter bestimmt nicht mehr das Spiel, sondern die Nachfragenden, mit Erwartungen an Preis, Geschwindigkeit und Transparenz. D.h. die Anbieter ziehen nach, um diese Erwartungen zu erfüllen.

Die bisher bekannte und uns Sicherheit gebende (oder nur vermeintliche Sicherheit?) Logik der klaren Linienhierarchien gerät zunehmend an ihre Grenzen, weil selbstorganisierende Netzwerke oft eine eigene Dynamik entwickeln. Planungshorizonte schrumpfen oder fallen gänzlich weg, Strategien stoßen an Grenzen.

Was heißt das für Menschen, die Verantwortung übernehmen wollen, für sich und andere:

Die Muster von gestern reichen oft nicht mehr aus. Für uns bei nevo bedeutet Handlungsfähigkeit heute oft, Prozesse so zu gestalten, dass deren Ausgang offenbleibt.

Es geht weniger darum, den perfekten Plan zu haben, sondern darum, flexibel auf Veränderungen reagieren zu können.

"Die Natur als Beispiel dafür, wie wir handlungsfähig sein können, wenn alles zunehmend unsicher ist."

Eine kleine Analogie dazu aus der Natur. Nehmen wir den Wald. Der Wald plant nicht, dass der Winter jedes Jahr am 20. November beginnt und bereitet sich dann minutiös darauf vor. Er lebt mit Unsicherheit. Wenn der Frost plötzlich früher einsetzt, reagiert das gesamte System. Der Pilz, der Farn, die Buche, jeder Teil spürt jeden Tag in die Umwelt hinein und passt sich an. Keine starren Pläne, sondern ein kontinuierliches Zusammenspiel von Wahrnehmen und Handeln. Ein Paradigmenwechsel, der für viele unbequem sein kann und den wir selbst oft als notwendig erleben.

Wir leben also in einer Welt der Unsicherheit. Kleine Störungen, oder sagen wir „Eruptionen“ in den vernetzten Systemen sind erstens unvorhersehbar und können zweitens Kettenreaktionen auslösen, die niemand vorhersehen konnte.

"Der Vulkan als Sinnbild für die unvorhersehbare Eruptionskraft vernetzter Systeme."

Stellen wir uns einmal folgendes Szenario vor:

Du und ich trinken eine Flasche Coca-Cola. Erst schmeckt alles normal – doch plötzlich entdecken wir etwas Merkwürdiges in der Flasche. Wir fotografieren es, stellen es ins Netz. Nichts Großes, nur ein kurzer Post. Doch weil wir beide gut vernetzt sind, greift es sofort. Menschen teilen, kommentieren, erzählen ihre eigenen Erlebnisse. Innerhalb weniger Stunden wird aus einer kleinen Irritation eine Welle. Über Nacht schwappt das Thema in die großen Medien. Der Börsenwert von Coca-Cola bricht dramatisch ein. Einzelhändler und Großhändler reagieren aus Imagegründen und nehmen das Produkt vorsorglich aus dem Sortiment. Nicht, weil jemand einen klaren Beweis hat. Sondern weil das Risiko, nichts zu tun, größer erscheint. Unser Post im Netz ist ein kleiner Auslöser. Dessen Eruptionskraft hatten wir nicht auf dem Schirm. Und schon gerät eine globale Marke ins Wanken.

Klingt zu abstrakt? Oder vielleicht doch vorstellbar? Wir erleben in unserer Arbeit mit Menschen und ganzen Organisationen immer wieder, dass Systeme so funktionieren: Kleine Ereignisse können sich selbst verstärken und große Wirkungen entfalten, manchmal völlig unerwartet. Die Vorhersagbarkeit der Wirkungen von Einzelnen Aktionen ist, aus systemischer Perspektive, sowieso nie gegeben.

Ungewissheit ist also weniger ein Defizit an Planung, sondern eher eine strukturelle Eigenschaft vernetzter Systeme. Je komplexer die Welt, desto häufiger treten Ereignisse ein, die wir nicht auf dem Schirm hatten.

Natürlich bleibt Planung wichtig. Wo Vorhersagen möglich sind, sollten wir sie nutzen. Aber: Was tun, wenn ich nicht planen kann, da ich schlicht nicht weiß, wohin, was kommt und wie es wird? Wenn sich die Situation einem Plan entzieht?

Eigene Erlebnisse:

In einem Strategie-Workshop mit einem Unternehmen in der Versicherungsbranche stand genau diese Frage im Raum. Was konnte das Unternehmen als neues Produkt entwickeln, um neue Kunden zu bekommen und zu begeistern? Normalerweise hätten sie monatelang recherchiert, Marktanalysen gefahren, Daten gesammelt, Modelle simuliert, ROI-Szenarien entworfen. Um genau das passende Produkt für den Markt zu finden und gleichzeitig das mit der höchsten wirtschaftlichen Erfolgswahrscheinlichkeit. Dieses Vorgehen hat die Beteiligten gelähmt, weil sich der Markt schneller entwickelt und verändert, als für diese ausführliche Analyse Zeit wäre-

Daher war dieses Mal die Frage eine andere: „Was ist unser leistbarer Verlust?“ Heißt wie weit können wir gehen, ohne zu wissen, wohin wir gehen und ob es sich lohnt, wo wir ankommen? Die Antwort darauf hieß: Zwei Wochen Testlauf, 10.000 Euro Budget. Mehr nicht. Das reichte, um zu starten – und nach zwei Wochen echte Kund*innenerfahrungen zu haben.

Wie kann die Frage nach dem leistbaren Verlust im Alltag aussehen?

Stell dir vor, du willst ein neues Restaurant ausprobieren. Normalerweise würdest du Bewertungen lesen, Menüs vergleichen, lange überlegen. Doch am Ende weißt du trotzdem nicht, ob es dir schmeckt. Also entscheidest du: „Mein leistbarer Verlust sind 50 Euro für einen Abend.“ Du gehst hin, probierst es – und hast eine persönliche Erfahrung. Vielleicht entdeckst du dein neues Lieblingslokal, vielleicht auch nicht. Aber du bist handlungsfähig.

Ein anderes Beispiel: In einem Organisationsentwicklungs-Prozess mit einem mittelständischen Industrieunternehmen sollte ebenfalls eine neue Strategie entwickelt werden. Auf die Frage „Wo wollen wir in fünf Jahren stehen?“ herrschte Schweigen. Also drehten wir den Blick: Welche Ressourcen sind heute da? Kontakte, Fähigkeiten, Netzwerke. Aus diesem Mosaik entstand ein Weg, der sofort gangbar war. Es war kein perfekter Plan, aber alle Beteiligten hatten eine Idee wo anzusetzen und fühlten sich somit handlungsfähig.

Wie kann die Fokussierung auf die vorhandenen Ressourcen im Alltag aussehen?

Denk an einen Moment, wenn du am mit Partner*in oder Freund*innen einen Urlaub machen willst. Auf die Frage „Wo wollen wir hinfahren?“ herrscht vielleicht Schweigen. So viele Möglichkeiten… Aber wenn ihr fragt: „Was haben wir jetzt gerade?“ – ein Auto, zwei Zelte, eine freie Hütte im Harz – dann entsteht sofort ein konkreter Plan. Kein perfektes Zukunftsbild, aber ein gangbarer nächster Schritt.

Das sind, neben weiteren, zwei Arten des Handelns, die die Logik von Effectuation beschreibt. Sie ersetzt nicht das Planen, sondern ergänzt es dort, wo Pläne enden.

In anderen Kontexten kann Szenarienarbeit helfen: keine eine Zukunft, sondern mehrere. Optimistisch, realistisch, extrem. Ähnlich, wie es Walt Disney mit seiner Methode zur Kreativitäts- und Problemlösung beschreibt. Was würde der Realist sagen, was der Träumer und was der Kritiker. So entsteht kein Wissen über „die Wahrheit“, aber ein Spielfeld. Wer verschiedene Zukünfte denkt, kann schneller reagieren, wenn eine davon Realität wird.

Das sind nur einige mögliche Ansätze, in unsicheren Zeiten handlungsfähig zu bleiben. Viel mehr als um Methoden geht es mir auch um eine innere Haltung. In der Metatheorie der Veränderung von Klaus Eidenschink finde ich die Hypothese spannend, dass Systeme eher erstarren, wenn sie versuchen, Paradoxien vorschnell aufzulösen.

In einer Welt von zunehmend vernetzten Systemen stoßen wir immer öfter auf solche Situationen, die sich der Logik einfacher Lösungen entziehen. Vernetzte Systeme reagieren nicht linear. Reines „Ursache-Wirkung“-Denken kann hier in einem Gefühl der Ohnmacht enden. Systemisches Denken kann hier ein Weg sein, diesem Gefühl der Ohnmacht zu begegnen.

Was ist systemisches Denken? »

Kurzer Einschub: Wenn du verstehen möchtest, warum systemisches Denken uns erstmal so fremd scheint und in der Gesellschaft (noch) nicht angekommen ist, dann schau mal hier:

Warum systemisches Denken »

Die Gedanken von Karl Kratz hierzu finde ich persönlich sehr erhellend und inspirierend.

Worauf ich damit hinaus will: Es braucht meiner Meinung nach eine Haltung, die Ambivalenz (Widersprüche), Paradoxien und Ambiguität (Mehrdeutigkeit) nicht als Fehler, sondern als Normalität begreift.

Denn Paradoxien tauchen überall auf:

  • Unternehmen sollen gleichzeitig stabil sein und sich permanent verändern.
  • Führungskräfte sollen klare Orientierung geben und zugleich Räume für Selbstorganisation öffnen.
  • Teams wünschen sich Sicherheit und gleichzeitig maximale Flexibilität.

Wenn ich versuche, diese Gegensätze „wegzumoderieren“, verliere ich. Denn vernetzte Systeme funktionieren gerade durch das Spannungsfeld, nicht trotz ihm.

Für mich geht es darum Widersprüche nicht sofort aufzulösen, sondern mit ihnen leben zu lernen. Ambivalenz auszuhalten bedeutet, nicht jede Unsicherheit sofort zu schließen, sondern sie als Ressource zu begreifen.

Statt sich auf die Illusion von Kontrolle zu verlassen, können wir Beweglichkeit entwickeln, wenn wir ergebnisoffen auf den Prozess fokussieren, wenn wir, statt nach der richtigen Antwort zu suchen, mehrere Perspektiven nebeneinander aushalten können.

Hier passt auch ein weiterer Gedanke: Subjektivierendes Handeln. Während „objektivierendes Handeln“ auf Plänen, Regeln und Risikomanagement beruht, geht es hier darum, im Moment Orientierung zu finden, auch ohne fertigen Plan. Das heißt: beobachten, reagieren, ausprobieren und wieder von vorn. Also im Handeln lernen. Wie das vorsichtige Gehen über einen zugefrorenen See: Jeder Schritt wird durch Spüren, Denken und Tun zugleich entschieden.
Genau darin liegt eine paradoxe Sicherheit: Nicht durch Kontrolle, sondern durch die Fähigkeit, im Unerwarteten zu handeln.

Und noch ein Blick in die Psychologie der Ungewissheit: Wir Menschen brauchen das Gefühl von Sicherheit, um handeln zu können. Unser Gehirn strebt ständig nach Homöostase. Risikomanagement, Standards und Prozesse geben uns diese „gefühlte Sicherheit“. Doch in vernetzten Systemen bricht sie immer wieder weg. Wenn wir dann versuchen, die Kontrolle zu verdoppeln, also noch mehr Planung, noch mehr Regeln, wird es nicht besser. Was helfen kann, ist eine andere Beziehung zur Ungewissheit: Sie nicht als Bedrohung zu sehen, sondern als Teil der Realität.

Vielleicht ist das die eigentliche Sicherheit unserer Zeit: nicht die Zukunft vorhersagen wollen, sondern im Unvorhersehbaren den nächsten Schritt gehen zu können. Mal mit einem Plan. Mal mit Effectuation. Mal mit Szenarienarbeit. Mal mit der Fähigkeit, Widersprüche auszuhalten. Mal mit …

Handlungsfähig bleiben also. Genau hier setzen wir bei nevo an. Wir schaffen Räume, in denen es möglich wird, Sicherheit darin zu finden, einen Schritt zu setzen, auch ohne zu wissen, ob das der richtige Schritt ist und wie weit der Weg trägt.

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Eine Auswahl an Literatur zum Thema:

  • „Führen in ungewissen Zeiten. Impulse, Konzepte und Praxisbeispiele“, Reihe uniscope. Publikationen der SGO Stiftung.
  • Klaus Eidenschink: Metatheorie der Veränderung (www.metatheorie-der-veraenderung.info).
  • Heidling, Kuhlmey (2017): Subjektivierendes Handeln in Projekten.

Hier schreibt: Konrad Gühlstorf

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